Ich sagte es bereits an anderer Stelle: ich bin 55. Nicht jetzt, wenn Sie dies lesen, sondern jetzt, während ich es schreibe. Das ist ein Unterschied, da werden Sie mir zustimmen, nehme ich an. Und ich bin Löwe. Nein, nicht Löwin sondern Löwe. Das ist auch ein Unterschied. Nicht irgendein Unterschied — wie kein Widder oder kein Chinesischer Drache. Sondern ein Unterschied, der einen Unterschied macht.
»Die Menschheit ist männlich,
und der Mann definiert die Frau nicht an sich,
sondern … als eine Untergattung des Mannes.«
(Simone de Beauvoir)
Gegen Ende meiner Schulzeit las ich »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir, der Frau an der Seite Jean Paul Sartres. Und da sind wir auch gleich schon in medias res, dem Hauptanliegen ihres Buches. Kein Mensch würde sagen »J.P.Sartre, der Mann an der Seite von Simone de Beauvoir«. Ärztinnen dürften sich mit angesprochen fühlen, wenn der Lesbarkeit halber von Ärzten die Rede ist. Umgekehrt käme eher selten …
Philosophie war mein Lieblings- und zugleich drittes schriftliches Abiturfach. Am Abend vor der Prüfung besuchte ich einen guten Freund, der nur wenige Minuten von der Schule entfernt wohnte, um am nächsten Morgen besonders ausgeschlafen zu sein. Der Freund hatte nur einen Raum und viele Freunde zu Besuch, die er bei J.J.Cale und Jean Michel Jarre mit gutem Afghanen bewirtete, den er aus Tunesien mitgebracht hatte. Ich legte mich früh schlafen und wurde am nächsten Morgen als Erste wach. Mir war angenehm eigenartig zumute und ich wusste genau: Heute ist ein besonderer Tag!
Da ich nicht genau wusste, wo dieses Gefühl herrührte, legte ich mich nochmal auf mein Mattenlager zwischen die übriggebliebenen Schläfer*innen. Ein Mädchen rüttelte mich wach und fragte, ob ich nicht zur Schule müsste, ich hätte was von Abitur gesagt. Da wusste ich wieder, was das Besondere an diesem Tag war. Der Adrenalinkick machte meinen Kopf nicht klar, reichte aber aus um — versorgt mit ein paar Brötchen, die das nette Mädchen schnell für mich zurechtgemacht hatte — mit sechzig Minuten Verspätung im Klausurraum anzukommen.
Auf meinem Tisch lag die Aufforderung, die Vertreibung aus dem Paradies nach dem zweiten biblischen Schöpfungsbericht — Adam und Eva hatten den inkriminierten Apfel gegessen und waren ausgewiesen worden, Adam sollte von seiner Hände Arbeit ein mühsames Leben fristen und Eva ihm dabei Gesellschaft leisten — und einen zentralen Text von Karl Marx über entfremdete Arbeit zu analysieren, zu vergleichen und dazu Stellung zu nehmen.
Ich war immer noch in einer eigenartig entspannten Stimmung. Ich saß vor den Texten und dachte: »Was gibt es da zu analysieren? Steht doch alles im Text …« Ganz weit hinten in meinem Kopf gab es eine kleine, leise Stimme, die verzweifelt mitteilen wollte, dass das die falsche Herangehensweise sei. Aber ich konnte irgendwie keinen Kontakt zu ihr bekommen.
Beim Klingeln zur ersten Großen Pause schlug in den dämmerigen Nebeln meines — wie ich mühsam begriff — Cannabis-ungeübten, aber vom schlafenden Mitrauchen völlig bekifften Hirns blitzartig die Erinnerung an meine aktuelle Lektüre ein. Wie besessen begann ich Seite um Seite mit einem wilden Manifest darüber zu füllen, dass die Diskriminierung der Frau schon im Paradies angefangen habe: Adam nämlich war zum Arbeiten dürfen verdammt worden und Eva nicht.
Mit dem letzten Klingelzeichen konnte ich den letzten Satz schreiben und war wieder klar genug im Kopf, um zu bezweifeln, dass ich in meiner Liga gespielt – pardon: geschrieben hatte.
Einige Tage später traf ich meinen Philosophielehrer auf der Treppe. Er durfte nichts sagen, sein Gesichtsausdruck ließ jedoch nichts Gutes ahnen. Dann wurde ich zum Direktor bestellt. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis gehabt, er war mein Lateinlehrer gewesen und ich hatte mein Großes Latinum bestanden, indem ich die tapferen Übersetzungen meiner Klassenkamerad(!)INNEN von »Catulli Carmina« überarbeitet und in den Sprachrhythmus des Originals gebracht hatte…
Nun war die Lage die: Mein Philosophielehrer hatte mir eine knappe Vier gegeben, das war drei Noten unter der Vornote und die Arbeit musste gegengelesen werden. Der Gegenleser vergab eine Zwei, die Differenz war zu groß, der Direktor hatte das letzte Wort. Er konnte meinen Philosopielehrer nicht leiden, er war eine Jungfrau mit Neigung zur Prinzipientreue und mochte keine selbstbewussten linken Junglehrer. Er bat mich, in einem der tiefen Ledersessel gegenüber seines riesigen Schreibtischs Platz zu nehmen, schüttelte mir die Hand und gratulierte mir »nicht mehr als Schülerin, sondern als Kommilitonin«, wie er mir hörbar bewegt gestand, zu dem Mut, auf das handwerkliche Vorspiel zu verzichten und die wenige zur Verfügung stehende Zeit für ein vielversprechendes akademisches Thesenpapier zu verwenden.
Auf meinem Abiturzeugnis stand eine glatte Zwei. Gut gebrüllt, Löw … in …