Meine erste Katze hieß Kater. Also eigentlich müsste ich sagen »Mein erster Kater hieß Kater«, aber dann weiß immer noch niemand mit Sicherheit, ob Kater Kater auch meine erste Katze war. Also — um diese Frage hier abschließend zu klären: Kater Kater war meine erste Katze.
Mit zwanzig hatte ich Abitur gemacht, geheiratet und war Hausbesitzerin geworden. Auf dem Land, auf der Grenze zwischen Siegerland und Nordhessen — eine für eine Großstädterin wie mich, sagen wir mal … interessante Gegend mit kleinen Tälern, in denen eine jeweils deutlich andere Variante des ohnehin herben Dialekts gesprochen wurde als im kleinen Nachbartal. Es gab viel Wald, viel Wild … und viel Platz bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit.
Die Bedingungen waren ideal, um mir einen Kindheitstraum zu erfüllen: eine Katze. In einem Dorf wie unserem hatte immer irgendwer gerade junge Katzen. Kater Kater war absolut schwarz, nichts an ihm — außer den Augen — war nicht schwarz und schnell zeigte sich, dass wir mit ihm — als Dreingabe, sozusagen — auch noch einen Hund bekommen hatten: Kater Kater ging gerne mit uns spazieren. Er blieb immer in Sichtweite, auch wenn wir in den Wald gingen. So selbstbewusst, wie er war, dachte er allerdings vermutlich, dass wir immer in Sichtnähe zu ihm blieben.
Leider hatten wir es uns nicht zur Gewohnheit gemacht, ihn anzuleinen oder ihm beizubringen, auf Kommandos wie »bei Fuß« zu hören. Nach einem langen Sonntagsspaziergang begegnete uns auf den letzten Feldmetern vor der Dorfgrenze ein ebenfalls nicht angeleinter Hund mit einem Herrchen, der es leider auch versäumt hatte, seinem Vierbeiner beizubringen, auf das Kommando »bei Fuß« zu hören. Keiner konnte so schnell schauen, wie dieser Hund unseren Kater buchstäblich quer im Maul hatte.
Im Anorak meines Mannes brachten wir den blutenden, leise wimmernden Rest unseres kleinen Gefährten zum diensthabenden Tierarzt. Der tat alles, was ein diensthabender Tierarzt tun muss — oder besser gesagt: was wir dachten, was ein diensthabender Tierarzt tun muss. Er selber hätte ihn sicher lieber in die Ewigen Jagdgründe geschickt, aber so, wie wir aussahen hatte er vermutlich Angst, wir würden diesen Eingriff ebenfalls nicht überleben. Und so durften wir etwas mit nach Hause nehmen, was wie weißes Verbandsmaterial mit hier und da schwarzer Felldekoration aussah.
Wir waren erst seit wenigen Wochen in unserem neuen Haus. Wir besaßen die Einrichtung einer Werkstatt, um historische Blockflöten zu bauen, einen klapprigen, silberblauen Mazda, eine original von Martinek getunte Moto Guzzi La Mans II, mit der wir — zumindest in den autofreien Nachtstunden — die Strecke zwischen unserem alten Kölner Freundeskreis und unserem neuen Domizil mit 220 km/h in 40 Minuten hinter uns lassen konnten; einige rote Kleinmöbel eines damals gerade in Mode gekommenen Einrichtungshauses, das sich mit einem Elch zierte — und ein Matratzenlager.
Vorläufig mussten unsere Freunde auf unsere Besuche verzichten …
Wir betteten unseren kleinen Überlebenden, der schnell nur noch ein feuchtes, nicht wirklich gut riechendes Bündel aus Fell, Knochen und Verband war, am Kopfende unserer Bettstatt in eine Kiste mit Wolldecken und Windeln, die uns die Nachbarn zur Verfügung gestellt hatten, nicht ohne uns spüren zu lassen, dass sie unsere Bemühungen um unseren vermutlich todgeweihten Hausgenossen für eine großstädtischen Schrulle hielten. Wir lebten makrobiotisch, kauften aber fiese, angeblich ausgewogene und jedenfalls schrecklich teure Katzen-Baby-Milch sowie Dosen-Katzenfutter einer Marke von der es hieß, sie enthalte süchtig machende Geruchs- und Geschmacksstoffe. Wir wollten nichts unversucht lassen, um unseren Freund auf dieser Seite des Lebens zu halten, zur Not mit biologisch unlauteren Mitteln.
Sechs Wochen lang machte jeweils einer von uns Nachtdienst. Das leiseste Geräusch aus der Kiste an unserem Kopfende veranlasste den jeweils Diensthabenden, anfangs kleine Tropfen Katzen-Babymilch und später kleine Bröckchen von dem feuchten, süßlich-fies riechenden Dosenfutter in sein Mäulchen gelangen zu lassen und eventuelle Ausscheidungen zu entfernen. Mehrere Tage lang hatte sich das tapfere Kerlchen mit seinem Darminhalt gequält, den es nicht einfach in sein Bettchen lösen wollte. Ob er uns geglaubt hat als wir ihm sagten, wenn er wieder gesund wäre, wäre diese Peinlichkeit akut vergessen weiß ich nicht, jedenfalls war es für uns alle drei eine große Erleichterung als er sich traute, sich zu entspannen. Als er uns irgendwann mit einem kaum hörbaren Schnurren für unsere Mühen dankte kamen uns beiden die Tränen…
Wir wussten nicht, ob es von Tag zu Tag wirklich aufwärts ging — zumal wir an akutem Schlafmangel litten — oder ob wir es uns nur wünschten. Jedenfalls versuchte das Kerlchen nach gut sechs Wochen, in denen es nur gelegen und von uns gewendet worden war, damit Luft an alle Seiten kam — zum Tierarzt hatten wir uns nicht mehr getraut, er hatte uns nur drei Tage gegeben, eigentlich wäre es sowieso Tierquälerei, unseren Freund nicht zu »erlösen« — er versuchte also, sich zu bewegen. Er wollte auf die Füße. Sprachlos saßen wir davor und schauten ihm zu, hielten unsere Hände gegen seine Pfoten damit er sich abstützen konnte — und tatsächlich gelang es ihm, sich umzudrehen. Oder besser gesagt: sich auf die andere Seite fallen zu lassen. Ganz offensichtlich hatte er dabei Schmerzen, er gab kleine stöhnende und ächzende Laute von sich — aber es gelang. Wir jubelten wie kleine Kinder, was ihn eher erschreckte, streichelten stolz sein Köpfchen – und berichteten begeistert den Nachbar von diesem Wunder.
Um uns nicht unsympathisch finden zu müssen hatten sie für uns eine eigene Kategorie erfunden: in bestem Nordhessisch waren wir die »Vagabunde-midde-bunde-Fenschter« — wegen der rotbraun gestrichenen Fensterumrandungen und den blauen Eiche-Fensterläden, die der Schwiegervater voller Stolz für uns gebaut hatte. Dass wir Hausbesitzer geworden waren tröstete den alten Mann ein wenig darüber hinweg, dass sein ältester Sohn weder die elterliche Schreinerei übernommen noch nach seiner Banklehre am Schalter der örtlichen Sparkassenfiliale Platz genommen hatte, sondern Flötenbauer geworden war. Dank der bodenständigen Schwiegereltern konnten sich die Nachbarn irgendwie besser mit unserem merkwürdigen Lebensstil arrangieren und feierten mit viel Schnaps unserer Glück über Katers Fortschritte mit uns.
Kater übte nun ständig seine erschlafften Muskeln, nach zwei oder drei Tagen fanden wir ihn neben seiner Kiste, die sich beim Herausklettern halb auf ihn gestülpt hatte. Und kurze Zeit später hörten wir an einem eigenartigen Geräusch, dass er sich von Treppenstufe zu Treppenstufe fallen ließ, um nach unten und, wie sich herausstellte, nach draußen zu kommen. Er schob sich — behindert durch den Verband um seinen Vorderleib immer wieder umfallend — Richtung Haustür. Offensichtlich wollte er endlich wieder mal anständig … na ja, … Katzen sind eben sehr reinliche Tiere.
Wir fuhren zum Tierarzt, der nicht glauben wollte was er sah. Beide Lungenflügel waren noch heil, obwohl der Hund mehrere Rippen regelrecht durchgebissen hatte, und bis auf eines waren auch alle Beine intakt. Mit dem Vierten humpelte er.
Als ob er selber wusste, dass sich das süßlich-riechende Katzenfutter allenfalls als Krankennahrung, nicht aber für einen sich selbst respektierenden Kater eignete stieg er problemlos um auf Trockenfutter. Außerdem hatten wir bald keine Mäuse mehr in Küche und Speisekammer. Kater war in kürzester Zeit von Beruf Katze geworden. Er humpelte mit einer Vorderpfote, wir hatten sogar den Eindruck, dass er das Humpeln zu einem Humpeln-zum-Gotterbarmen steigern konnte, wenn wir in der Nähe waren. Jedenfalls, wenn er draußen war und sich unbeobachtet wähnte, zog er das Humpelbein unter die Brust und sprintete dreibeinig.
Unser Kater war der einzige nicht kastrierte schwarze Kater in unserem kleinen Dorf. Im späten Frühjahr hatten fast alle Katzen ein oder mehrere schwarze Katzenbabys in ihren Nestern. Kater war mit seinen Bemühungen, seine Gene der Nachwelt zu schenken offenbar schneller geworden als seine Mitbewerber. Oder attraktiver …
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