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Das ist Zotti. Zotti ist etwas älter als ich. In den letzten Jahren hatten wir uns aus den Augen verloren, aber kürzlich tauchte er beim Umzug aus den Tiefen meiner Kellerkisten wieder auf. Ich kann mich nicht erinnern, dass er schon so alt und — ganz ehrlich? — etwas lädiert aussah, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Das muss vor circa 35 Jahren gewesen sein. Wahrscheinlich findet er mich auch ein bisschen älter und lädierter, als er mich in Erinnerung hatte. Jedenfalls war es, als hätten wir uns gestern zum letzten Mal gesehen. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Großmutter mütterlicherseits den Stoff eines alten Unterhemdes mit schwarzem Tee gefärbt hat, bevor sie damit die verschlissenen Flächen seiner Hand- und Fußtatzen geheilt hat. Früher hatte ich beim Einschlafen immer den Zotti im Arm und habe mit dem Daumen über die glatten Flächen seiner Füße gerieben. Das fühlte sich irgendwie beruhigend an. Ich wusste nicht mehr, dass seine neue Haut auch schon verschlissen war, als wir uns aus den Augen verloren haben.

Früher hatte er wunderschöne braune Knopfaugen aus Glas mit bernsteinfarbenen Sprenkeln darin gehabt. Das mit den Druckknöpfen als Augen ist ok. Knopf-Augen sind es ja trotzdem, er ist da großzügig. Den Steiff®knopf im Ohr hat er verloren. Selbst das Ohrloch kann man nicht mehr sehen, obwohl seine Haare etwas schütter geworden sind. Aber in unserem Alter ist man seine eigene Marke. Das sehen wir ganz entspannt.

Meine Großmutter väterlicherseits hätte das mit der Tatzenreparatur und den Druckknöpfen vermutlich nicht so schön gefunden. Aber die Eltern meines Vaters hatten damals noch nicht das Rentenalter erreicht und lebten in der »Zone«. Als sie dann »rübermachen« durften, konnte man die Uhrzeit neu einteilen: bei Oma und Opa klingelte der Wecker nicht um Viertel nach sechs sondern um Viertel sieben.

Meine Großmutter hatte Handschuhmacherin gelernt. Seit ihre Augen nicht mehr gut genug waren für die unvorstellbar feinen Stiche, mit denen Glacéhandschuhe genäht wurden, arbeitete sie in einer Puppenfabrik. Die Großeltern zogen zunächst bei uns ein und meine Großmutter brachte mir eine solche handgemachte Puppe mit. Ich nannte sie Luise, wie meine Großmutter. Luises — die Puppe, meine ich — Kopf war aus Thüringer Manufakturporzellan. Sie hatte Augen mit langen Wimpern, die sich beim Hinlegen sanft schlossen. Dann sah sie wunderschön aus, wie meine kleine Babyschwester, wenn sie schlief.

Ich war drei oder vier Jahre alt als ich entdeckte, dass Mutter werden mein Beruf war. Ich wusste nicht, dass ich als Mädchen einen Penisneid hätte haben sollen. Stattdessen hatte ich tiefstes Bedauern für meine armen Brüder, die weder Kinder im Bauch tragen und auf die Welt bringen noch — und das empfand ich als noch viel grandioseren Makel — stillen konnten.

Wir alle hatten ein Tier: ich hatte Zotti, mein ein Jahr jüngerer Bruder hatte einen Affen, mein jüngerer Bruder ein Kaninchen. Das hieß wie seine Patentante Fräulein Blümel, hatte ein weiches, weißes Fell und seine Ohren waren innen rosa. Bis dahin war alles gut, wir zankten uns über alles und über nichts.

Als ich jedoch Luise bekam, wurde alles anders. Meine Brüder entdeckten ihr geschlechtsbedingtes Defizit und verbündeten sich von nun an regelmäßig gegen mich, entführten Luise und drückten ihr die Glasaugen in den Porzellankopf. Ich kann mich noch gut an das Entsetzen, die ohnmächtige Wut und tobsüchtige Hilflosigkeit erinnern, wenn ich nach Hause kam und den Frevel entdeckte. Meine Mutter hatte eindeutig mehr Verständnis für meine Brüder, die wegen meines Rachefeldzugs heulten, aber meine Großmutter nahm Luise in ihre Obhut, ich war auch schon mehrmals im Krankenhaus gewesen und hatte dies als gute Erfahrung in einer Umgebung in Erinnerung, die sich nach geheimen aber verlässlichen Rhythmen und Regeln um mich herum ereignet hatte. Ich war überzeugt, Luise würde es in der Puppenklinik meiner Großmutter auch gut gehen. Wie viele Nylonstrümpfe und Kaffeepäckchen sie »nüber«schicken musste im Tausch gegen neue Schlafaugen entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls kehrte Luise jeweils heil und mit glänzenden blauen Glasaugen in meine Obhut zurück. Bis meine Brüder sie erneut ihres Augenlichts beraubten …

image Zotti war mein stiller, stets einfühlsamer nächtlicher Gefährte. Ich presste ihn unter der Decke an meine Brust, sorgsam darauf bedacht, dass er noch Luft bekam, und er umfing mit seinen kurzen Armen mein Herz, sodass es nicht zerriss.

Zur Zeit ist Zotti mein Kurschatten.