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Seit Wochen schreibe ich an diesem blog. Wenn ich mit dem Gesicht zum Himmel auf der Weser trieb und erst die Wellen und dann die Stille genoss, die den vorbei­ziehen­den Schif­fen folgte; wenn ich auf dem Platz vor meinem Fenster den Tour­isten, den Tauben oder dem Mann zu­schaute, der sein Fahr­rad geparkt hatte und auf einer Jacke liegend das Unkraut bei den Bän­ken unter dem großen Ahorn aus den Ritzen im Kopf­stein­pflaster kratzte … Das alles wären span­nende, anrüh­rende, interes­sante oder wie auch immer Themen gewesen, wenn ich schon zwei Jahre oder wenig­­stens zwei Monate geschrie­ben, mich schon vorge­stellt hätte und meine Leser mich schon kennen würden – aber nicht um etwas so Funda­mentales wie einen eige­nen blog anzufangen.

Ein Anfang ist etwas Wesent­liches, Ge­heimnis­volles. Die ersten Erin­nerun­gen an eine Begeg­nung, die später eine Liebes­geschich­te wer­den soll, der Moment wenn ein Kind gezeugt wird oder auf die Welt kommt, der erste Schul­tag, was man mit dem ersten selbst ver­dienten Geld gekauft hat — »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.« Und eine beson­dere Kraft. Auch dem ersten Satz eines Buches… Und, so fühlt es sich für mich an, dem Anfangeines blogs

Vor einigen Wochen, genau genom­men an meinem Ge­burts­tag ist mir dann dieser Text auf­gefal­len, den mein Bester Freund in das schöne, herbst­liche Bild eingebaut hat. Draußen war noch Som­mer und es stim­mte mich weh­mütig, schon Herbst­stimmung vor­weg zu neh­men. Trotz­dem hatte mich der Text und auch die Atmo­sphäre des Bildes mit ihrer Melan­cholie und gro­ßen Ruhe an der Grenze von Sein und Anders-Werden inspi­riert und mich irgend­wie an meinen Groß­vater erinnert. Ich begann zu schrei­ben und hielt den Text vor­läufig als Ent­wurf zurück. Jetzt, wo es wirk­lich Herbst ist, die Sonne tiefer steht und es noch warm genug ist, dass ich das Fenster zum Platz offen lassen und die trock­nen Blät­ter rascheln hören kann, mit denen der leichte Wind spielt; und nach­dem ich längst einen ande­ren Anfang für mein blog gefunden habe ist dieser Atikel reif, sein Versteck zu verlassen und in Fluss zu kommen. Ich widme ihn dem wich­tigsten Menschen meiner Kind­heit: mei­nem Groß­vater.

Der Text stammt von Bern­hard von Clair­vaux und steht in einem Brief an seine Freun­din Hilde­gard von Bingen. Bern­hard von Clair­vaux ist gewis­ser­maßen für mich zu­ständig. In sechs Stunden vor 55 Jahren endete der erste Tag meines Lebens außer­halb meiner Mutter. Ich bin nicht katho­lisch geboren, im Gegen­teil: meine Mutter sprach im­mer ab­schät­zig von den »Katholen« und die Ikone, die aus welchen Gründen auch immer den Weg vom Ka­lender in einen Bilder­rahmen neben der Wohn­zimmer­tür gefun­den hatte hieß der Form ihres Heiligen­scheins wegen »Madonna mit der Brat­wurst«. Dabei war Humor eine sehr kost­bare Ressource in unserer Familie – er kam quasi nicht vor. Also war das mit der Brat­wurst eher nicht nett gemeint. Als Kind hat man dafür feine Anten­nen.

imageDer Heilige Bern­hard spielte also zu­nächst eher keine Rolle in meinem Leben. Als ich erfuhr, dass mein Ge­burts­tag »sein« Tag ist — alle Bern­hards und Berna­dines haben an meinem Geburts­tag Namens­tag —, war ich schon über zwanzig. Aber er hatte mich schon als Jugend­liche beeindruckt: wie er mit wenigen Gefolgs­leuten in eine der unwirt­lichsten Gegen­den Euro­pas gezo­gen, die Land­wirt­schaft revo­lutio­niert und damit einen Kreuz­zug gegen die ewigen Hungers­nöte begon­nen hatte; am Ersten Kreuz­zug ins Heilige Land faszi­nierte mich die Perspek­tive seiner Widersacherin Eleo­nore von Aqui­tanien, der Mutter von Richard Löwen­herz und der Begrün­derin der ritter­lichen Minne­kultur an den provença­lischen Höfen; und die Philo­sophie der Leere und des Nichts hinter der Licht­mystik der Zister­zienser fand ich einfa­cher zu ver­stehen als die Philo­sophie des Zen-Buddhis­mus, über die wir in den letz­ten Schul­jahren in Räu­men disku­tierten, in denen man auch als Nicht­raucher vom bloßen Atmen bekifft wurde.

Wie gesagt, Bern­hard — und über­haupt Namens- und andere Heilige — bevöl­kerten die Welt mei­ner Kind­heit eher nicht. Was man über meinen Groß­vater mütter­licher­seits nicht sagen konnte. Er war Pastor in einer rie­sigen ost­preu­ßischen Land­gemeinde gewesen. Meine Mutter erzählte, dass nach der Macht­über­nahme durch die Nazis der Dorf­poli­zist manc­hmal spät nachts, wenn mein Groß­vater an seiner Predigt saß, vor­sich­tig an sein Fen­ster klopfte und meinen Groß­vater warnte, er müsse am kom­menden Sonntag zuhören. Mein Groß­vater wählte dann theo­logische Ak­zente, die nach oben zu berichten dem Poli­zisten keine Bauch­schmerzen berei­ten wür­den. Nicht immer hat das geklappt. Zwei­mal, wenn ich mich recht erin­nere, wurde er trotz­dem von der Gestapo abge­holt und in das Gefäng­nis der Kreis­stadt gebracht. Darauf­hin pack­ten etliche Leute aus dem Dorf Körbe mit Lebens­mitteln und Decken und viel selbst­gebrann­tem Schnaps und fuhren eben­falls in die Kreis­stadt, um vor dem Gefängnis Quar­tier zu nehmen. Sie legten ihre ganze ost­preu­ßische Gemüts­tiefe in ihren Pro­test und waren nicht von der Stelle zu bewe­gen. »Wenn unser Herr Pfarrer nicht zu uns kom­men kann müssen wir halt zu ihm kom­men«. So sollen sie es meiner Groß­mutter berich­tet haben. Berlin war weit, das Ganze wurde zu un­über­sicht­lich für die ört­liche Behörde und nach eini­gen Tagen konn­ten sie meinen Groß­vater wieder mit­nehmen.

Bis ich sech­zehn oder sieb­zehn war, war er die wich­tigste Person in meinem Leben. Irgend­wie war er immer da und auch später, als mit Freun­dinnen, Leh­rern, Ehe­mann, Söh­nen, Neben­buhler­innen, Pro­fes­soren, Men­toren andere Menschen auch wichtig wurden tauchte er an meiner Seite auf wenn es eng wurde. Mit vier­zehn brachte er mich des­wegen in nicht uner­hebliche Schwierig­keiten. Zwei Jahre vorher schon saß ich im Bus auf dem Weg zur Schule und fuhr gerade an einer blauen Tank­stelle (noch heute mag ich nicht so gerne blaue Tank­stellen) vorbei als mir blitz­artig klar wurde, dass mit mir etwas nicht stim­men konnte. Mir war auf­gefal­len, dass ich nicht auf­hören konnte zu denken. Und dass ich nicht denken konnte was ich wollte, sondern denken musste was mir in den Kopf kam. In Abgren­zung zu intelli­genten Men­schen wie mei­nem Vater oder mei­nem Bruder, die ganz offen­sicht­lich denken konn­ten wie man isst oder Fahr­rad fährt – also man denkt etwas, wenn es etwas zu denken gibt und wenn man damit fertig ist hört man wieder auf — konnte ich das ganz ein­deutig nicht.

Jetzt war die Bezie­hung zu meinem Groß­vater nicht derart, dass ich einfach zu ihm hätte hin­gehen und sagen können „Groß­vater, wie geht das? Wie lernt man das?“ Statt dessen ver­suchte ich zunächst alleine eine Lösung zu finden, ängst­lich darauf bedacht mir nicht an­merken zu lassen, dass mit mir etwas nicht stimmte, denn dann wäre ich viel­leicht weg­gesperrt worden wie mein Urgroß­vater von dem es hieß, er habe nach seiner unver­schuldeten Insol­venz seine letz­ten Lebens­jahre in einer Trinker­heil­anstalt ver­bracht — später bekam ich Grund zu der An­nahme dass er, wie viele seiner Zeit­genossen in den 20er Jahren, opium­süchtig gewor­den war — während ich Augen und Ohren weit auf­sperrte um keinen Hinweis darauf zu ver­passen, der mir hätte helfen können meinen Gor­dischen Knoten zu lösen.

Mit vierzehn fiel mir dann auch noch auf, dass es äußerst schräg ist einen Men­schen wie meinen Groß­vater als wich­tigste Bezugs­person zu haben. Mein Groß­vater war in der Silvester­nacht neun­zehn­hundert­ein­und­vierzig in den Schützen­gräben vor Stalin­grad gefal­lenen.

…weiterlesen: Wie Großvater mir seinen Kopf lieh…