Früher war für mich der 9. November immer der Tag der Pogrome in der Reichskristallnacht 1938 gewesen. 1989 — 61 Jahre danach und fast auf die Stunde genau heute vor 24 Jahren — kaufte ich in einem kleinen Supermarkt am Stadtrand von Amsterdam fürs Abendessen ein. Mein zweijähriger Sohn saß im Tragetuch auf meiner Hüfte, während ich meine Einkäufe zur Kasse schob. Im seitlichen Blickfeld nahm ich irgendwas mit einer Mauer wahr. Was in Deutschland die Zeitung mit den vier Buchstaben ist, ist in Holland De volkskrant: wenn man sie nicht liest, schaut man auch nicht hin. Nach einer Weile registrierte ich, dass sich diese »De muur is open«-Schlagzeile nicht vollständig aus meiner Wahrnehmung ausblenden ließ, indem ich sie mit »Wird wohl irgendwo ein Rolling Stones-Konzert sein« zu überblenden versuchte.
Ich schaute richtig hin: eine Mauer, herausgebrochene Steine, Menschen mit ekstatischen Gesichtszügen kletterten über die Mauer. Ich hatte das Gefühl, dass es in meinem Kopf eine Art Erdbeben gab. Das konnte nicht sein. Es war in meinem Leben nicht vorgesehen. Nie hatte ich eine solche Möglichkeit erwogen, es gab kein Bild für diese Option in meinem Kopf. Hinter dem Datum, an dem mein Vater 1953 nach sechsjähriger Gefangenschaft unter KZ-Bedingungen aus seiner Heimat Thüringen nach Berlin gegangen war und dann rübergemacht hatte, hatte sich in meiner Landkarte von Deutschland die Grenze zwischen Ost und West für immer geschlossen. Es gab eine diesseitige und eine jenseitige Seite der Welt: nicht durch einen Ozean oder eine Kontinentalspalte sondern durch eine Mauer mit Todesstreifen getrennt.
Im Sommer nach meinem Abitur hatte ich Tante Trude in Halle/Saale besucht. Düstere Häuserfassaden, wenig Sanitär und noch weniger Autos – alles dort hatte mich an unsere ersten Monate 1963 in Duisburg erinnert, wo wir zwei Jahre wohnten, bevor wir von Saarbrücken nach Köln gezogen waren. Die Treffpunkte der Volkssolidarität kamen mir ebensowenig einladend vor wie das Monate vorher von Tante Trude im »Inter-Hotel« bestellte und vollkommen überteuert mit D-Mark bezahlte Essen. Ich war von meiner Reise nicht als Fan des real existierenden Sozialismusses zurückgekommen.
Mir wurde schwindelig, jemand bemerkte es, Tränen liefen mir übers Gesicht, ich las flüsternd die Schlagzeile, wiederholte sie gefühlt sechs, sieben, acht Mal, dann schaute ich jemanden an und sagte auf Deutsch: »Die Mauer ist offen…«. Jemand rief »Zij is Duitse!«[1], jemand anderes schob einen Stapel Getränkekisten an meine Kniekehlen, so dass ich mich setzen konnte, ich wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, dazwischen stammelte ich »Dat kan niet, deze muur gaat dwars door me heen…« [2].
Ich schaute in Zeitlupe in die Gruppe Menschen um mich herum, bekam Blickkontakt, jemand umarmte mich, nach und nach umarmten und gratulierten mir andere, jemand ließ einen Sektkorken knallen, wir tranken an Ort und Stelle aus Plastikbechern den heizungsluftwarmen, schrecklich süßen Sekt, sogar der Kleine in seinem Tuch bekam etwas ab: »Kereltje, als dit je moeder is» — Blick zu mir, Nicken, Blick zum Kind — »dan is dit ook jouw feest!» [3].
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich die Einkäufe bezahlt habe…
[1] Sie ist Deutsche!
[2] Das kann nicht sein, diese Mauer geht mitten durch mich durch.
[3] Kerlchen, wenn das Deine Mutter ist, dann ist das auch Dein Fest!