Un-Broken Vision  |  © kw

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Einige Tage nach unserem Versuch, die Welt aufzustellen, hatte ich einen Traum. Er hat mir Angst gemacht und ist mir nicht aus dem Kopf gegangen. Ich bin zu meinem Lieblingsplatz am Fluss gegangen um ihn aufzuschreiben. Ich wollte ein Photo machen und endeckte dabei direkt auf Augenhöhe diesen geknickten Zweig, aus dessen Bruchstelle lauter neue kleine Triebe wuchsen. Einer zerbricht und an seine Stelle treten drei neue, die weiterwachsen. Da begriff ich was er mir sagen wollte, der Traum …

… vom Tycoon und den Ameisen

Ich stehe auf einer Plattform, einem Aussichtsturm – über mir ist nur Himmel. Ich stehe und schaue. Bis zum Horizont – alles meins. Ohne dass ich Anweisungen geben muss geschieht dort unten nichts was ich nicht will. Ich stütze mich mit beiden Armen auf die Brüstung, wenn ich auf einem Schiff wäre würde mir der Wind von der Bugwelle hoch Gischt ins Gesicht wehen. Ich lehne mich zurück. Richtig genau mag ich nicht hinschauen. Betriebsamkeit von Baggern so groß wie Supermarktparkplätze, mittelgebirgshohe Hügel von Rohstoffen – «Sand, Steine, Erden …« – die drei Wörter bilden irgendeinen fernen Sinn, vielleicht noch aus meiner Jugend – eine Gewerkschaft? Eine Rockband?

Mir fällt auf dass ich keine Freunde habe. Nicht mehr. Spielen, Toben, Bolzen, Geheimnisse haben, sich blind aufeinander verlassen können – weiß ich noch wie sich das anfühlt? Tausende die es gerne wären, hunderte die sich so nennen – aber keiner der es wirklich ist. Jemand der sich traut mich Arschloch zu nennen oder mir vor die Füße zu kotzen wenn ich wieder per Federstrich oder in einem knappen Anweisungssatz eine Entscheidung an meinem zehntausende Dollar – stimmt, ich glaube ich träume Dollars, nicht Euros – teuren Schreibtisch gefällt habe, über die sich irgendwo außerhalb meines Gesichtsfeldes ein paar tausend Leute lautstark aufregen und – von Polizisten, die ich nicht bezahlen muss, bewacht – ein paar Straßen mit ihrem bunten Aufzug füllen. Abends ist alles wieder vorbei. Solange die Aktien nicht sinken …

Wo war ich, ja … keine Freunde. Wenn ich will dass mir jemand wirklich die Meinung sagt muss ich Unternehmensberatern oder Universitätsprofessoren hunderte Dollars pro Stunde bezahlen, damit sie mir sagen was sie denken. Ich statte dann eine Stiftung, die meistens nicht nach mir heißt mit dem nötigen Kleingeld aus und lasse sie von engagierten High-Potentials mit hervorragenden Universitätsabschlüssen und ethischen Ambitionen leiten. Sind die auch beschäftigt. Und beaufsichtigt.

Meine Frau stellt manchmal Fragen die in mir für einen Moment Unbehagen auslösen. Ich verspreche ihr, mich um das Problem zu kümmern oder frage sie, wieviel Geld sie braucht um sich der Sache selbst anzunehmen. Ab und zu treffen sich meine Berater und die des Präsidenten, damit wir uns jederzeit bei einem Treffen anlächeln und das shaking hands von beiderseitigem sonorem Lachen begleitet werden kann, in der Gewissheit, dass auch unsere Damen mit uns zufrieden sind.

Ein ernstzunehmendes Problem stellt meine Tochter dar. Im Moment ist sie mir ihren Babys beschäftigt. Aber ich darf nicht vergessen mich darum zu kümmern. Sie – und ihr Mann – können mir ernsthafte Schwierigkeiten machen.

Der Himmel bewölkt sich. Die Konturen der Landschaften werden schärfer, es sieht aus als ob der Horizont näher ist – nicht näher kommt sondern jedesmal, wenn ich hinschaue näher ist. Obwohl es nicht sein kann erscheinen Aufzüge von diesen schreienden, Banner schwenkenden Menschen in meinem Blickfeld. Es werden mehr, sie werden größer, ich ahne dass ich sie bald sogar hören werde. Wo sind die Politiker, die das verhindern sollen, wo die Polizei – es werden immer mehr – sie sind ringsum, wenn sie eine bestimmte Linie überschreiten werden sie kleiner, verwandeln sich … in Ameisen, kommen immer näher – werden immer kleiner, schwarze, rote … ich will schreien aber ich bringe keinen Ton heraus, mein Mund bleibt offen stehen, das Entsetzen angesichts dessen was unweigerlich geschehen wird lähmt meine Gesichtsmuskeln, mit aufgerissenen Augen und Mund starre ich dem unaufhaltsamen schwarzen Strom entgegen … je näher sie kommen desto lauter wird das Brausen, das diese Millionen, vielleicht Milliarden winziger Krabbler erzeugen, ich kann es nicht sehen aber ich weiß genau dass sie den Sockel des Turms erreicht haben, nichts hindert sie, inzwischen auf einen Zentimeter geschrumpft kommen sie höher und höher, sie meinen mich nicht, mein Wille und ihrer haben keine gemeinsame Schnittstelle, sie kommen höher und höher, tun was sie tun müssen…

Als die ersten Ameisen über meine Lippen, in meinen Mund, meine Augen krabbeln wache ich auf. Schweißgebadet, ich muss meinem Kiefer, meinen Armen und Beinen einzeln den Auftrag geben sich aus der Starre zu lösen, mein Mund ist trocken und schmeckt bitter, ich brauche lange bis ich sicher bin, dass ich nur geträumt habe.

In unserem »Versuch die Welt aufzustellen« hatten wir den Eindruck gewonnen, dass es für uns höchste Priorität hat, die Geheimverhandlungen über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP – und, wie wir bei unseren anschließenden Recherchen feststellten, auch TiSA und CETA – zu stoppen. Mein Freund, mit dem zusammen ich die Aufstellung am Fluss gemacht hatte, hat eine hervorragende Dokumentation zu diesen und angrenzenden Themen im Reiseblog seines alter ego Kul Tedduz verfasst.

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Das Motiv mit den Ameisen hat er für eine Mailing- und Postkartenaktion aufgegriffen. Im Mai 2014 hatte EU-Verhandlungsführer Karel de Gucht die durch Campact überreichte Petition mit dem Hinweis zurückgewiesen, was sei schon eine knappe halbe Million Unterschriften, er stünde für 500 Millionen Europäer. Ich habe Bundeswirtschaftsminister Gebriel und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel geschrieben, dass meine Unterschrift unter der Petition nicht nur ein Mausklick ist. Ich rede – und schreibe! – darüber. Ich benutze die Rückseite als Briefpapier, denn ich korrespondiere noch handschriftlich. Und ich träume davon, dass Gabriels Briefkasten und Büro in einer Flut von »nur« 470.000 Postkarten untergeht …