Es gibt Tage, da ist man auch ohne billigen Rotwein, trübes Wetter und Ebbe in der Kasse deprimiert. An einem solchen Abend – der Rotwein in meinem Glas war wie er sein sollte, trocken, erdig, samtig … – philosophierte ich mit einem guten Freund – getrennt durch eine gute halbe Autostunde und verbunden durch eine Telefonleitung – über die Zerstörung der Welt im Ganzen und im Besonderen. Er bekannte, dass er immer niedergeschlagener würde.
Während mein Gesprächspartner seinen inneren Status beschrieb wurde mir klar, dass ich in einem Korsett aus Angst steckte. Es gab keine heilen – und heiligen – Orte mehr. Wenn ich an den Mond dachte, waren schon Astro- und Kosmonauten dort gewesen und hatten Tonnen von Müll im Orbit hinterlassen. Den sternenklaren Nachthimmel entweihten Positionslichter von Flugzeugen, Satelliten und Raumfähren. An den Polarkappen schmolzen ganze Kontinente und mit ihnen die Lebensräume für Pinguine, Eisbären und ihre Gefährten. Im Regenwald fielen täglich 50 oder 500 – solche Größenordnungen kann man sich ja eh nicht vorstellen – Fußballfelder von Urwaldriesen riesigen Bulldozern zum Opfer. Ihr Treibstoff wurde durch Fracking in großartigen Naturreservaten gewonnen, wo jetzt auch die tapfersten Rothäute keinen Sonnentanz mehr abhalten konnten, um Wakan Tanka, das Große Geheimnis, zu ehren.
Ich wusste nicht mehr, wo mein Geist hätte hinfliegen können, um ein bisschen spirit für die nächsten Stunden zu tanken. Ganz ohne wehleidig zu sein fühlte ich mich absolut mut- und machtlos – und meinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung schien es ähnlich zu gehen.
Für einen Moment tauchte das Bild von meinem Lieblingsplatz am Fluss vor meinem inneren Auge auf. Kraftvolle Orte waren für mich immer schon mit Wasser verbunden. Der ruhige, mächtige Rhein zum Beispiel, der die Kulisse meines erwachenden politischen Bewusstseins bildete. Amsterdam mit seinen Kanälen, wo ich zuhause war, nachdem mein Mann und ich mit unseren Kindern eine Familie geworden waren. Ich erinnere mich, dass mich in der Zeit mein Bruder gelegentlich für mehr Engagement für Amnesty International gewinnen wollte. Aber es war mir nicht möglich, mich mit den Qualen gefolterter Dissidenten zu beschäftigen und unmittelbar später entspannt mit meinen Kindern zu spielen. Er hat es mir, glaube ich, immer etwas übel genommen.
Als die Kinder klein waren hatten wir diesen Traum von einer metaphysischen Mikro-Weltgemeinschaft, für den wir eine alte Schule in der nördlichen Provence gekauft hatten. Die zahllosen unberührten Wasserfälle in den Bergen rund um unser Dorf, die keinerlei touristische Attraktion darstellten (weil einfach keine Touristen dort hinfanden) und deren majestätische, verspielte, glitzernde, tosende Lebendigkeit mit dem kristallklaren Wasser, das man bedenkenlos aus der hohlen Hand trinken konnte und die das kleine Bergdorf zum schönsten Ort der Welt für mich machten, auch nachdem unser Utopia dort gestorben war.
Und dann die vielleicht glücklichsten Wochen meines Lebens, flittern in einem umgebauten Ziegenstall am Finistère – dem »Ende der Welt«, achthundert Meter vom Strand einer bretonischen Bucht westlich des sagenumwobenen Menéz Hom entfernt, die so zwischen zwei Halbinseln lag – presqu‘ îls, »beinahe Inseln«, lustig, nicht? – dass der Wind die herbe, salzige Luft des Atlantik bis in die geöffneten Fenster wehte, der dennoch – vor allem nachts – oftmals so still war, dass man unwillkürlich den keltischen Mythen glauben mochte, nach denen die Toten in ihren offenen Booten nach Westen über das Meer in die Anderwelt gleiten.
Es gab sie also noch, Refugien zum Ausruhen und Atemholen, nicht auf meiner inneren Weltkarte, aber in meiner Erinnerung. Während ich hin und wieder einen Schluck Rotwein nahm und mein Freund und ich Theorien entwickelten über die großen Zusammenhänge, ging ein Teil meiner Gedanken weiter eigene Wege … Wenn man die Welt retten möchte, kann man gleich depressiv werden. Es ist unmöglich, all den gewissen- und gesetzlosen Wahnsinn zu verhindern, der in großem Stil dabei ist, die Erde von innen aufzubrechen, um ihr noch ein bisschen Gas und sandiges Öl abzuringen, die Bienen vergiftet und mit aberwitzigen Lügen Kriege und immer neue Kriege anzettelt, während eine ganze Politikergeneration zu koabhängigen Marionetten von öl-, macht- und geldsüchtigen Lobbyisten wird, noch bevor die 100-Tage-Karenzzeit auch nur halb um ist.
Darüber waren mein Freund und ich uns einig. Und dass wir nicht einfach zuschauen konnten auch. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es einen Unterschied macht – einen Unterschied, der wirklich einen Unterschied macht – ob man die ganze Welt retten will oder mit allem, was einem zur Verfügung steht etwas verteidigt, das einem unersetzlich erscheint. Wie zum Beispiel einen Fluss, in dem auch die eigenen Enkel noch schwimmen können sollen oder ein französisches Tal, in dem Hunderte von Apollofaltern zuhause sind.
In Saarbrücken, wo ich geboren bin, konnten meine Brüder und ich – obwohl wir erst fünf, vier und zwei Jahre alt waren – neben unserer Siedlung in einem Wäldchem am Hang spielen, an dem es auch eine Quelle gab. Wir haben im Unterholz Hütten gebaut, das Wasser des kleinen Bachs gestaut, Borkenschiffchen mit Blättern, Käfern und Blumen bemannt auf die Reise geschickt … und wenn wir Durst hatten, mussten wir nicht nach Hause gehen, sondern haben uns unter die Quelle gelegt und das Wasser über unser Gesicht gleich in den Mund laufen lassen.
Im Sommer des Jahres, an dem wir an den Rhein zogen, wurde ich sechs. Alle Häuser im Viertel waren schwarz, selbst das fast neue, weiß geklinkerte Vierfamilienhaus, in das wir einzogen, hatte bereits begonnen schwarz zu werden. Wenn der Himmel verhangen war, war er gelb statt grau, und selbst wenn die Sonne schien gab es diesen gelblichen Schleier. Noch heute finde ich mich von einem Moment auf den anderen in diesen düsteren Straßen wieder, wenn ich den typischen, schwefeligen Geruch aus dem Schornstein eines Hauses mit einer alten Ölheizung rieche. In der Nähe unseres Hauses floss die Emscher, ein betongefasstes Flüsschen, dessen chemische Fracht es zum Umkippen gebracht und in eine stinkende Kloake verwandelt hatte. Wenn wir am Wochenende einen Picknickausflug zu den Rheinauen machten, durften wir nur bis zu den Knöcheln in das giftige Wasser gehen. Das änderte sich auch nicht, als wir ein Jahr später nach Köln weiterzogen.
Der Fluss, an dem ich heute wohne, war bis vor zehn Jahren auch nicht zum Baden geeignet. Chloridhaltige Abwässer aus der Kaliumgewinnung konnten bis in die ersten Jahre dieses Jahrtausends ungehindert von den Fabriken im Quellgebiet bis in die Nordsee fließen. Heute kommen immer mehr Fische zurück, ein sichereres Zeichen für die steigende Wasserqualität als die chemischen Untersuchungen der Institute.
Wenn ein steifer Ostwind weht und die Temperaturen es zulassen, bei weit geöffnetem Fenster zu schlafen, dann weckt mich das Geschrei der Möwen und ich kann die Einladung des Flusses schon beim Aufwachen riechen. Vor dem Frühstück ist das Wasser noch kalt, aber wenn mein Hund und ich eine halbe Stunde abwechselnd gegen die Strömung gekämpft und in den kleinen Buchten zwischen den Buhnen herumgedümpelt und gealbert haben, ist der Tag schon gelungen. Und wenn ich nach der Arbeit mit einem vollen Kopf in das inzwischen um mehrere Grad wärmere Wasser gehe und mich anschließend von der Spätnachmittagssonne trocknen lasse, ist mein Kopf wieder frei.
πάντα ῥεῖ oder »Alles fließt … Du kannst nie zweimal in denselben Fluss steigen!« Diesen Satz legte Platon vor zweieinhalb tausend Jahren seinem Kollegen Heraklit in den Mund. Meine Eltern konnten sich vor vierzig Jahren nicht vorstellen, dass das Wasser der Emscher eines Tages wieder klar und hell durch ihr renaturiertes Bett fließen würde. Die Idee, dass Flüsse kontaminiert sind hat sich ihnen so eingeprägt, dass es sie jedesmal überrascht wenn ich erzähle, dass Ronja und ich den ganzen Sommer schon in unserem Fluss schwimmen gehen. Manchmal sogar statt zu duschen.
Als Ronja und ich am Morgen nach jenem nächtlichen Gespräch am Fluss entlang gingen, kam mir die Idee zum »Versuch einer Weltaufstellung …« Und mein Freund fasste den Entschluss, sein alter ego Kul Tedduz auf eine Reise zu schicken. Kuls virtuelle Abenteuer hält er seither in einem Reisejournal fest.
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