Gute Nerven — schlechte Nerven

Dieses Plakat hing im vorletzten Bahnhof auf meinem Weg in die nord­bayrische Kleinstadtklinik, wo ich mich von einem umfassenden burn out erholen wollte. Im Coffee Corner hatte mir ein Junger-Mann-mit-Migra­tions­hinter­grund einen Café au lait serviert, so als ob er nicht arbeitete sondern tanzte. Ich sagte es ihm und er antwortete mit einem strahlenden Lächeln. So wollte ich irgendwann auch wieder arbeiten können …

Das Plakat über dem Durchgang zu den Gleisen erinnerte mich daran, dass ich vor neun Jahren schon einmal in dieser Stadt gewesen war. Nicht mit dem Zug, sondern mit meinem 2CV-Cabrio namens Arthur-die-Renn­eule..

Damals hatte ich am Samstag nach Weiberfastnacht entdeckt, dass mein Mann eine Geliebte hatte. Dafür, dass er Informatik­lehrer war, hatte er seine Korrespondenz mit der Dame auf dem von uns beiden genutzten Rechner nur mäßig gut versteckt. Oder meine Intuition war angesichts dieser besonderen Herausforderung besonders gut. Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, ihre Emailadresse heraus zu finden, obwohl wir getrennte Accounts mit voreinander geheim gehaltenen Passwörtern hatten.

Ich schrieb ihr jedenfalls eine Mail, in der ich sie über meine weiterhin bestehende Absicht informierte, mit ihm alt zu werden. Dann fuhr ich einkaufen. Offenbar war die Dame not amused, denn als ich nach Hause kam war mein Mann ebenfalls not amused, hatte allerdings Formulierungsschwierigkeiten als er mir zu erklären versuchte, warum. Ich begriff schnell, dass die Hormone ihm vorläufig wenig Raum für Handlungsalternativen lassen würden und beschloss, aus der Sache ein Fastenthema zu machen. Wenn er Ostern immer noch an der Dame hinge, wollte ich weitersehen. Ich nahm vor Kummer in sechs Wochen fünfzehn Kilo ab und ertappte mich mehrmals dabei, geradeaus weiterfahren zu wollen, wenn die Straße abbog. Da ich allerdings durch den Schemen meiner Großmutter hätte fahren müssen, die sich jedesmal vor den Baum geradeaus gestellt hatte, fuhr ich jeweils doch lieber mit der Kurve mit. Ansonsten war ich eher neben der Spur.

Ostern war keine Lösung in Sicht. Ich hatte zwei halb- bis drei­viertel­wüchsige Teenagersöhne, die sowieso begonnen hatten, an meiner Autorität zu zweifeln und mir vermutlich nicht begeistert in ein neues Domizil gefolgt wären, ganz abgesehen davon, dass ich mit einem fünf­stelligen Schulden­betrag an die Dauer­bau­stelle gebunden war, die den Lebens­inhalt meines Mannes darstellte, wenn er nicht gerade Pläne mit Frau N. aus der bayrischen Kreisstadt machte – ein grundentkerntes, 400 Jahre altes Fachwerkhaus, an dem er ständig herumwerkelte und in dem meine Praxis lag. Meine Situation ließ sich kurz gesagt auf die Formel bringen »Ich stecke mitten in einer Katastrophe und kann mir gerade keine Krise leisten«.

Nach dem Motto »Change it, leave it or love it! « schloss ich Option eins und zwei als unrealistisch aus und entschloss mich, Frau N. bis auf Weiteres zu lieben und zunächst meine Selbstwirksamkeit wieder herzustellen. Im Rahmen meiner Ausbildung zur Familientherapeutin sollte im Sommer — spröde Ironie des Schicksals — das Seminar »Krisen in Systemen« stattfinden. Das schien mir der geeignete Rahmen für die Strategieplanung. Bis dahin war noch etwas Zeit. Ich kauft mir eine Deutschlandkarte und steckte eine dicke Nadel mit — ich gebe es zu — einem Anflug von sardonischem Genuss in die nordbayrische Kreisstadt, in der die Dame wohnte und arbeitete, und zog einen Kreis von 100 Kilometern um die Nadel. Dann rief ich alle Eltern-Selbst­hilfe­gruppen innerhalb dieses Zirkels an und bot ihnen Vorträge und Work­shops zu einer The­matik an, über die ich gerade einen Fach­aufsatz geschrieben hatte. Meinem Mann gegenüber erwähnte ich jeweils en passant »Übrigens, im Juni bin ich in Bad M. für einen Vortrag« oder »Jetzt habe ich auch noch einen Workshop in W.«. Mal wirkte er wie jemand, dem ein Kaugummi die Zähne aneinander geklebt hatte, mal als hätte er in eine unreife Limette gebissen. Nachts, wenn er dachte dass ich schlief, lief das Telefon heiß.

Nachdem meine Route feststand rief ich eines Morgens um neun — ich wusste, dass die Dame in leitender Stellung in einem Hotel der gehobenen Klasse im Zentrum der mittel­großen bayrischen Kreis­stadt arbeitete — bei ihr an. Die Telefonnummer kannte ich, weil ich einen Einzel­gesprächs­nachweis beim Telefon­anbieter bestellt hatte. Und ihre Adresse hatte ich über die Rück­wärts­such­funktion eines digitalen Telefon­buchs eben­falls heraus­gefunden. Ich hatte mich nicht darauf ein­gestellt, dass sie mit bayrischem Akzent sprechen würde. Sie klang sympathisch und irgendwie verletzbar — vermutlich war ich die erste, mit der sie an dem Morgen sprach — und ich musste mich erst etwas sortieren, bevor ich mich mit Vor- und Nachnamen vorstellen und ihr mitteilen konnte, sie gehöre doch nun gewissermaßen zur Familie und ich wolle sie — oder vorläufig zumindest ihre Stimme — gerne kennenlernen. Warum ich mir das antäte, sagte sie nach einer mehrere Sekunden dauernden Pause, bei der ich die Luft anhielt und fest damit rechnete, sie würde auflegen. Das hatte sie nicht getan, statt dessen aber tatsächlich »Warum tun Sie sich das an?« gesagt.

Jetzt war ich kurz versucht, vor Sprachlosigkeit aufzulegen. Aber dann fing ich mich und konterte, sie und mein Mann ließen mir ja schließlich keine Wahl. Wir plauderten, wenn man das so nennen kann, ungefähr eineinhalb Stunden, an den Inhalt kann ich mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß aber noch, dass ich sie von der Fehlinformation befreien konnte, mein Mann und ich hätten getrennte Schlafzimmer und auch sonst nicht mehr viel miteinander zu tun, und dass sie mich darüber aufklärte, mein Mann habe sich nur aus Mitleid noch nicht von mir scheiden lassen.

Es entstand eine gewisse, wenn auch nicht ganz freiwillige Vertrautheit während dieses Telefonats, die jedoch wieder ins Unfreundliche zu changieren drohte, als ich sie auf meinen bevorstehenden Besuch in ihrer mittelgroßen bayrischen Kreisstadt vorbereitete.

In meinem Enten-Cabrio namens Arthur-die-Renneule — wegen der roten Scheinwerfer auf der weißen Motorhaube — fuhr ich an einem strah­lenden Juli­morgen kurz nach Sonnen­aufgang von Ost­west­falen nach W., um die Geliebte meines Mannes vis-à-vis von der Existenz seiner Ehefrau zu überzeugen. Ich flog mit offenem Verdeck und Geklapper von allem, was eigentlich niet- und nagelfest sein sollte, über die A7 nach Süden. Ich war nicht oder kaum schneller als die LKW. Wenn es bergab ging, ließen sie mich überholen, licht­hupten und winkten mir zu. Ich glaube, wenn sie gekonnt hätten, hätten sie mich im Rudel eskortiert.

Morgens um neun saß ich dann in ihrem Hotel und bestellte Frühstück. Leider hatte sie keinen Dienst. Nicht schlimm, ich wusste, dass sie die Kredit­karten­abrech­nungen machte und bezahlte insgesamt dreimal im Laufe des Tages mit meiner Karte. Dann ging ich in den zugegeben wunderschönen Schlosspark, setzte mich an jede lauschige Stelle und schickte von dort aus SMS an meinen Mann mit Texten wie: »Sitze gerade am …-Brunnen…« oder »Kann verstehen, dass Du es hier schön findest …« mit dem Hintergedanken, wenn er sie hier das nächste Mal küsst, war ich vorher da. Irgendwie Hase und Igel.

Dann ging ich zu ihrer Adresse. Auf mein Klingeln öffnete niemand. Ich ging in den gegenüber liegenden Laden und kaufte mir ein Kleid, das ich in die größte Schmucktasche verpacken ließ, die der Laden hatte. Auf beiden Seiten stand groß das Logo und die Adresse des Ladens, und ich träumte davon, sie bei uns wie absichtslos in den Flur zu stellen, die Haus­nummer nur drei Zahlen von der der Dame entfernt. Alle zwei Stunden verschickte ich SMS, mit und ohne Fotos, in den darauffolgenden Tagen arbeitete ich meine Vortrags- und Work­shop­reihe ab und meldete mich mehrmals täglich mit begeisterten Texten. Irgendwas muss übergesprungen sein. Mein Mann erzählte mir später, die Gespräche zwischen ihnen beiden hätten sich nur noch um seine Ehe und irgendwie auch um mich gedreht, sie habe sich immer mehr in eine Art Paar- und Ehetherapeutin verwandelt und er habe immer weniger Lust gehabt auf Stress mit zwei Frauen.

Sie sollte nicht die letzte gewesen sein…

Das alles ging mir durch den Kopf in der halben Stunde, während ich im Bahn­hof der mittel­großen bay­rischen Kreis­stadt meinen Café au lait trank, den mir der tanzende Junge-Mann-mit-Migra­tions­hinter­grund zube­reitet hatte und auf den Zug für meine letzte Etappe in die Klinik wartete, wo ich meinen leeren Akku aufzu­laden und meine eigene Freude am Arbeiten und am Tanzen wieder­zu­finden hoffte.

Gute Nerven — schlechte Nerven