Bedauerlicherweise blieb es nicht bei Frau N. aus der nordbayrischen Kreisstadt, die inzwischen mit einem Anwalt liiert war, wie mein Mann mir versicherte. Statt meiner verhärmten Traumfigur — ich hatte spontan 15 Kilo abgenommen, als ich von der Dame im Süden erfuhr — litt ich jetzt unter dem Jojo-Effekt.

Ich arbeitete an der holländischen Grenze in einem Bildungsprojekt und hatte dort eine winzige Zweitwohnung. Donnerstags kam ich ich nach hause und arbeitete die Anrufe vom Display des Telefons in meiner Praxis ab. Eines Morgens hatte ich eine Dame mit tendenziell neubundesländischem Akzent am Telefon. Als sie nichts sagte, nachdem ich mich mit meinem üblichen »Katharina Walckhoff, Sie hatten bei mir angerufen …«-Spruch gemeldet hatte, half ich ihr mit dem Hinweis, ab und zu würden Anrufe vom Apparat meines Mannes auf meinen Apparat umgeleitet, wenn bei ihm besetzt ist. Und wiederholte meinen Nach- mit seinem Vornamen. Wieder Pause. Dann sagte die Dame mit noch hörbarer Überwindung in der Stimme, die ihre Entschlossenheit, das Folgende zu sagen, sie kostete: »Das ist mein Freund.«

Nach meiner — zugegebenermaßen schlagfertigen — Erwiderung »Da sind Sie nicht die Erste…« war es wieder still. Dann, sehr leise: »Sie sind noch zusammen?«

Ich bot ihr an, alles Weitere abends nach meinem letzten Kliententermin zu klären. Punkt eine Minute nach neun klingelte das Telefon. Wenn wir in-den-alten-Bundesländern-Lebenden verliebt sind, ragen noch ungefähr 15% gesunder Verstand aus dem Meer rosa- oder flammendroter Neurotransmitter hervor. In den neuen Bundesländern sind gefühlte 35% übrig. Zumindest bei dieser Dame. Sie hörte erstaunlich souverän und einfühlsam zu, stellte nüchterne Fragen und nach etwa eineinhalb Stunden erklärte sie, eigentlich fände sie es richtig und angemessen, sich zurück zu ziehen. Allerdings sei sie dafür leider im Moment noch zu verliebt. Na gut.

Einige Tage später erhielt ich von meinem Mann eine SMS mit dem lappidaren Inhalt: »Ich will mich trennen.« Die Dame war also nicht untätig geblieben und hatte ihn vor die »Sie oder ich«-Entscheidung gestellt. Mir passte das gerade nicht so gut. Ich musste am nächsten Tag einen Vortrag und zwei Workshops auf einem Kongress in der Nähe halten. Das war mit dem Zustand meiner Nerven nur begrenzt kompatibel, zum Glück konnte der Veranstalter last minute noch ein Zimmer im Tagungshotel für mich buchen, ich verbrachte den Tag vor dem Symposion im Wald und im Wellnessbereich des Hotels und brachte meine Auftritte erstaunlich professionell hinter mich. Thema des Vortrags war »Wiedergewinnen der Selbstwirksamkeit bei häuslicher Gewalt«. Da war ich ja gerade irgendwie Expertin.

Anschließend flüchtete ich in mein kleines Appartement an der holländisch-deutschen Grenze. Auf der Autobahn scannte mein durch Schock-Unempfindlichkeit unterstützter Autopilot im Kopf die Optimismus-ist-maximaler-Pessimismus-Fragen: »Was wäre der worst case? Überleg Dir zwei Lösungen, dann hast Du einen hundertprozentigen Lösungsüberschuss. Was kann Dir dann noch passieren?«

Kurz vor der Grenze hatte er das größtmögliche Problem isoliert und immerhin eine Lösung gefunden: Wenn ich einen Hund hätte, wäre ich Weihnachten nicht allein. Schon eine Weile dachte ich darüber nach, einen Therapiehund auszubilden. Ich zog gar nicht erst den Mantel aus, sondern telefonierte sofort mit dem nächsten Tierheim und fragte nach schwarzen Hundewelpen, die groß würden (wer keine Angst mehr vor einem großen schwarzen Hund hat, hat keine Angst vor Hunden mehr. Klar, oder?). Ich bekam die Nummer einer Auffangstation, die gerade Bouvier-Welpen von einem illegalen holländischen Züchter aufgenommen hätte.

Meine Nachbarin — Polizistin und Hundesportlerin — hatte Spätdienst und fuhr das Auto, damit ich den kleinen Hund zwischen die Füße nehmen konnte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Zustände bei dem illegalen Züchter schlimmer sein konnten als die Auffangstation: In einem lichtlosen, weiß gefliesten Keller saß ein zitternder kleiner Fellhaufen, der sich als zwei Welpen — Bruder und Schwester — entpuppte. Als ich mich auf den Boden hockte, schoss eines der beiden Fellbündel auf meinen Schoß und rollte sich zusammen. Klare Sache, der wollte mit. Oder besser: sie wollte mit.

In den Impfpass und die Chipunterlagen musste ein Name eingetragen werden. Mir fiel auf der Stelle nur »Ronja« ein. Später, als alle immer sofort »Ronja-Räubertochter« skandierten, als ob es sich bei dieser Assoziation um eine unglaublich spontane und einfallsreiche Idee handelte, bereute ich diese Entscheidung zuweilen. Wahrscheinlich wäre mir aber statt dessen nur »Momo« eingefallen …

Wie auch immer — im Auto rollte sich das Knäuel zwischen meinen Füßen zusammen, und ich hätte schwören mögen, dass es da schnurrte — als ob es wusste, dass ich eigentlich Katzenmensch bin.

Das war sechs Wochen vor Weihnachten. Ich hatte keine Zeit, mich mit dem Gesundheitszustand meiner Ehe zu beschäftigen. Statt dessen kämpfte ich in den ersten drei Monaten darum, mein Fellbündel, dessen Volumen etwa dem Inhalt einer größeren Salatschüssel entsprach, am Verhungern zu hindern. In der Auffangstation hatte man die beiden Geschwister beim Fressen nicht getrennt. Der größere Welpe hatte sich satt gefressen und niemand hatte bemerkt, dass die kleine Schwester fast nichts abbekam. Dabei war sie so von Parasiten befallen, dass sie zu schwach für die Medikamente dagegen war. Entweder hatte sie Durchfall wegen der Medikamente oder wegen der Parasiten. Mit Homöopathie und einem speziellen Hundefutter, das mir die Inhaberin einer kleinen Tierhandlung in der kleinen Grenzstadt empfohlen hatte, glückte es, dass sich nach und nach Gewicht zwischen Haut und Knochen meines kleinen Hundes ansammelte.

Viel später erzählte mir meine Nachbarin, sie und ihre Mutter, die in der gleichen Straße wohnte und regelmäßig vorbei schaute, hätten immer wieder überlegt, ob es besser wäre nichts zu sagen oder mich vorsichtig darauf vorzubereiten, dass Ronja die ersten drei Monate vermutlich nicht überleben würde. Gut dass sie nichts gesagt haben …

Ich habe nie mit einem Hund zu tun gehabt, der so viel Angst hatte, nichts zu fressen zu bekommen. Als Ronja es das erste Mal fertig brachte, mir ein Brötchen zu bringen, das sie im Gebüsch gefunden hatte, statt es schuldbewusst schnell selbst zu fressen, kamen mir die Tränen.

Heutzutage kann sie ganz entspannt beim front cooking bei uns vor dem Haus zuschauen …