... und keiner geht hin

Ich bin Konstruk­tivistin. Sagt zumindest meine Freundin Ruth. Die radikalste Konstruk­tivistin, die sie kennt. Wie viele Kon­struk­tivistinnen kennt sie? Und wie viele davon sind radikal? Ich will es gar nicht so genau wissen, vielleicht kennt sie nur ganz wenige – jedenfalls finde ich diesen Super­lativ in Bezug auf meine Person gut. Für die meisten anderen meiner Freunde bin ich eher schon mal kompliziert. Sie mögen mich meistens trotzdem. Wie gute Freunde nun mal so sind …

Mein Freund ist leider nicht mehr mein Freund. Die Beziehung wurde irgendwann zu kompliziert. Er ist jetzt mein Bester Freund. Wir sind schon einige Jahre kein Paar mehr. Nicht einmal mehr ein Tango-Paar. Eigentlich. »Stell Dir vor es ist Trennung und keiner geht weg…« Wir machen immer noch mehr zusammen, als viele andere Menschen zusammen machen, die noch ein Paar sind. Und viele Paare machen auch nicht mehr, was wir nicht mehr machen. In den Augen der meisten Menschen, die uns nicht sehr gut kennen – und sogar von einigen, die uns gut genug kennen, um es besser zu wissen – sind wir also immer noch ein Paar. Wenn wir abstimmen lassen würden, ob wir ein Paar sind oder nicht, würde – basis­demo­kratisch, sozusagen – vermutlich »Ja« herauskommen.

Ein niederländischer Freund sagte einmal: »Wenn die Holländer morgen aufhören würden, sich so zu verhalten, als sei Beatrix ihre Königin [das war natürlich vor ihrer Abdankung zugunsten von Willem Alexander], würde sie in spätestens einem Monat denken, sie sei verrückt.«

Das hat mich an etwas erinnert: Im Zimmer meiner Brüder hing ein wandhohes Plakat mit einer Ziegelsteinmauer, auf der mit weißer Farbe stand »Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin.« Das hat natürlich jetzt, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, eine tragische Aktualität. In den 70er Jahren lebten wir ebenfalls mit der Angst vor einem atomaren Krieg. Zum Ende meiner Schulzeit war das große Thema »Zum BUND gehen (womit nicht der Bund für Umwelt und Naturschutz gemeint war, sondern die Bundeswehr) oder verweigern?«. Einer der ganz großen points of no return in meinem Leben war mein Philosophie-Kurs zu Beginn der Oberstufe. Wir lernten Kommunikationsmodelle kennen und völlig neue, experimentelle Methoden zur Textanalyse und Platons Symposion … und natürlich waren wir alle mehr oder weniger verliebt in unseren Philosophielehrer. Mit Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« und Gadamer, von dem ich nur den Namen aber nicht mehr weiß, was wir von ihm gelesen haben, gingen wir in die Kneipen der Kölner Südstadt, ignorierten die Flamencosänger und das Essen, für das wir kein Geld hatten und diskutierten wie im Rausch bis in die frühen Morgenstunden oder bis wir in Rotwein ertranken. Und kamen uns vor wie Jean Paul Sartre und die Jungen Wilden.

Nach den Sommerferien flüsterten alle, die es wissen konnten, noch vor Unterrichtsbeginn, es sei ein Neuer in die Schule gekommen. Einer mit »von« im Namen und mit der Begründung, das Eliteinternat, das er offenbar vorher mit seiner Anwesenheit beehrt hatte, sei ihm zu versnobt gewesen. Wir dagegen fanden, dass es der Inbegriff von Snobismus sei, sich in die Niederungen unserer wenig elitären Schule zu begeben. Er bewegte sich souverän, hatte eine Mähne wie Beethoven und trug — während es gerade angesagt war, in Kaftans herum zu laufen, die die Jungen Kreativen, die schon volljährig waren, von ihren R4-Ausflügen nach Marokko und Tunesien mitgebracht hatten — er also lief in Jeans, Trenchcoat und Borsalino rum. Und er kam in unseren Philosophiekurs. Eine echte Bereicherung, wie sich schnell herausstellte.

Er hatte in unserer Stadt eine Partei namens »Gruppe internationaler Marxisten-Leninisten« gegründet und lief an einem Montag aschfahl und völlig gebeugt in der Schule auf. Auf Nachfragen der Freunde gab er Auskunft, dass seine Partei, die immerhin 96 eingetragene Mitglieder hatte, bei der Kommunalwahl am vorausgegangenen Sonntag lediglich 92 Stimmen erhalten habe. Vier Abtrünnige von der gerechten Sache also.

Wir trösteten den Freund und intensivierten unsere intellektuellen Selbsterfahrungen. Inzwischen nahmen wir dank der Beziehungen unseres Philosophielehrers an einem Pilotprojekt des Kölner Jugendreferats teil, das uns in den Genuss einer Gestalttherapeutischen Selbsterfahrungsgruppe brachte. Das einzige, was wir — außer hin zu gehen, natürlich — dazu beisteuern mussten war, je einen Fragebogen am Anfang und am Ende des Kurses auszufüllen. Unsere philosophischen Höhenflüge nahmen nicht mehr in Kneipen sondern in der elterlichen Villa des Freundes ihren Ausgangspunkt, wo wir die Nächte durchdiskutierten, zur Abwechslung mal mit dem Essensaufzug vertikal spazieren fuhren und uns von der Haushälterin auch nach Mitternacht noch mit Köstlichkeiten aus ihrer Küche verwöhnen ließen. Es gehörte zu ihren alltäglichen Aufgaben, für Botschafterempfänge und andere hochkarätige gesellschaftliche Anlässe zu kochen und sie fand, wer so viel denkt und so wenig schläft, muss wenigstens essen. Wohl wahr!

Auf der Abiturfeier fragte ich den Freund, was er denn nach der Schule machen werde. Ich dachte an das Plakat meiner Brüder und unsere großen philosophisch-politisch-moralischen Diskussionen und erwartete, dass er sagen würde, er rechne damit, als Totalverweigerer in den Knast zu gehen. Stattdessen überraschte er mich mit der Auskunft, er ginge zur Bundeswehr. Nachdem er sich an meiner ungläubigen Verblüffung genügend geweidet hatte, vervollständigte er die Mitteilung dahingehend dass er vorhabe, eine Rote Zelle zu gründen.

Einige Monate später trafen wir uns bei einem Schulfest anlässlich der Einweihung eines Erweiterungsbaus wieder, unter dessen Entstehen wir während unserer gesamten Oberstufenzeit gelitten hatten. Ich fragte ihn, wie es ihm ginge und was vor allem seine Rote Zelle mache. Anflüge von Bedauern und von Selbstironie begleiteten das Eingeständnis, er sei Tauglichkeitsgrad 1 gemustert worden und auf das Segelschulschiff Gorch Fock gekommen. Nach den Diensten an Deck habe er nur noch in die Koje sinken können. Zu müde, um eine Rote Zelle zu gründen. Ein Jahr später war in dem schlechthinnigen Boulevardblatt zu lesen, er habe die Schlagersängerin Esther Ofarim geheiratet und sei nach New York gezogen.

Wenn Sie wissen möchten, wie ich Konstruktivistin wurde, können Sie einen Ausflug … hierhin … machen. Oder Sie können … hier … weiterlesen…

PS: Wer kennt noch das alte HÖR ZU-Bilderrätsel – »Finden Sie den Unterschied! (zu oben ;-))«
kw_ krieg-wo